Vorwort der Herausgeber Kunst provoziert Priester, Schamane, Scharlatan, kaum eine Bezeichnung wurde ausgelassen, um den am 12. Mai 1921 in Krefeld geborenen und am 23. Januar 1986 in Düsseldorf gestorbenen Jahrhundertkünstler Joseph Beuys zu charakterisieren: Sein ästhetischer Imperativ, ‚Jeder Mensch ist ein Künstler!‘, klingt bis heute vielfältig in den Kunstakademien, in der Kunst und Kunstgeschichte nach. Und doch überrascht, wie wenig Joseph Beuys bis heute die Gemüter kalt lässt. Seine Provokationen und Aktionen verliefen vielfach quer zu allen etablierten politischen Frontverläufen, wie seine Skepsis gegenüber der westdeutschen Demokratie und seine gleichzeitige Kritik am unterdrückerischen Kommunismus der DDR sowie am Marxismus als aus seiner Sicht überkommenen Ideologien, so in seiner Aktion Ausfegen, in der er am 1. Mai 1972 den Karl-Marx-Platz in Berlin symbolisch-performativ ‚freimachte‘. Dass man sich auch mit Joseph Beuys und seinen künstlerischen Gedanken und Konzepten selbst ideologiekritisch ‚ausfegend‘ auseinandersetzt, ist weniger überraschend als die inzwischen polarisierte Spaltung der diesbezüglichen Diskurse zwischen einer alarmistisch-journalistischen Skandalisierung eines vorgeblich durch seine nationalsozialistische Vergangenheit und die Anthroposophie Rudolf Steiners kontaminierten Schamanen einerseits und der kunstwissenschaftlichen sowie musealen Erschließung seines Werks andererseits. Das Journal für Kunstgeschichte widmet sich in diesem und im nächsten Heft im Jubiläumsjahr der 100. Wiederkehr des Geburtstages von Joseph Beuys einer Auswahl der zahlreichen Publikationen und Ausstellungen, die diesem epochalen Künstler der Nachkriegskunst des 20. Jahrhunderts gewidmet sind. Nicht zuletzt verstehen wir dies als Beitrag, die partiell erhitzten Diskurse zu Beuys wieder auf den Boden sachlicher Diskussionen zurückzuführen. Den Anfang hierzu macht Kirsten Claudia Voigt mit ihrer Besprechung des Beuys-Buchs von Philip Ursprung Joseph Beuys. Kunst, Kapital, Revolution. Wie immer bietet das Journal für Kunstgeschichte darüber hinaus ein breites Spektrum vielfältiger anderer Beiträge: Der von Bernhard Rusch rezensierte Katalog Sophie Taeuber-Arp. Gelebte Abstraktion zu den gleichnamigen Ausstellungen im Museum of Modern Art New York, im Kunstmuseum Basel und der Tate Modern liefert einen umfassenden Einblick in ein künstlerisches O`Euvre, dessen fundamentale Bedeutung in der Geschichte der Abstraktion ebenfalls neu zu bewerten ist. Wolfgang Brückle stellt die unter dem Titel Antlitz der Zeit veröffentlichte Porträtsammlung mit Fotografien von August Sander vor, in der 60 Fotos deutscher Menschen des 20. Jahrhunderts mit gesammelten Rezensionen 1929–1933 ein beeindruckendes Dokument der fotografischen Bildgeschichte überliefert ist. Der von Magdalena Droste und Elisa Tamaschke vollständig editierte dreibändige Briefwechsel zwischen Oskar Schlemmer und Otto Meyer erlaubt es, sich dem Leben und Werken dieser beider Künstler sowie deren künstlerischen Austausch in vertiefter Form anzunähern: Das Seelenpostbuch der in den Jahren 1909 bis 1933 zwischen den beiden Künstlern ausgetauschten Briefe wird von Andreas Strobl rezensiert, der für das Journal für Kunstgeschichte zugleich auch die von Felix Billeter und Maria Leitmeyer in zwei Publikationen edierten Briefwechsel des Künstlerehepaars Hans Purrmann und Mathilde Vollmoeller-Purrmann bespricht, sodass hiermit gleich mehrere Briefeditionsausgaben im Vergleich betrachtet werden können. Briefe und Dokumente bilden auch die Basis für die Rekonstruktion der zwischen 1600 und 1608 von Peter Paul Rubens unternommenen Italienreise, die in der Publikation Tra Fiandre e Italia: Rubens 1600–1608 von Raffaella Morselli untersucht wird. In ihrer Dissertation Vergegenwärtigung des Sakralen beschäftigte sich Helen Boeßenecker mit der Wirkungsästhetik skulpturaler Altäre des römischen Seicento. Die Publikation Eloquent Bodies. Movement, Expression, and the Human Figure in Gothic Sculpture von Jacqueline E. Jung richtet den Blick auf die Wirkung gotischer Skulpturen. Der Sündenfall im Werk von Hans Baldung Grien und seine Ikonografie steht im Zentrum der von Melanie Kraft rezensierten Dissertation von Julia Carrasco. In denkbar großen Kontrast hierzu gibt Felix Schniz eine Einführung in die Taxonomie von Genre und Videospiel, die von Andreas Rauscher vorgestellt wird. Mit dem Wiederaufbau der im Krieg erheblich beschädigten Kieler Universitätsbibliothek von Gropius und Schmieden im Kontext europäischer Bibliotheksbauten beschäftigt sich Uwe Albrecht in seiner Rezension zur Publikation Bibliotheksarchitektur um 1900. Dem Wiederaufbau in Katastrophen wie Fluten, Bränden oder Kriegen zerstörter Städte widmet sich der von Elke Onnen und Thomas Spohn herausgegebene Band Die neuen Häuser in den neuen Städten und Dörfern, ein Thema, das angesichts der derzeitigen Nachrichten über die Hochwasser- und Umwelt-Katastrophen eine bedrückende Aktualität gewinnt. Aus denkmalpflegerischer Perspektive widmet sich schließlich Ingrid Scheurmann Konturen und Konjunkturen der Denkmalpflege sowie dem Umgang mit baulichen Relikten der Vergangenheit und der um 1900 geführten Diskussion zur Restaurierung historischer Gebäude, rezensiert von Christine Grohn. Wie stets danken wir herzlich unseren Autorinnen und Autoren für ihre eindringlichen Beiträge und unseren Mitarbeiterinnen Celina Berchtold, Anna Baumer, Carla Nadermann und Hannah Semsarha für ihre redaktionelle Unterstützung
Journal für Kunstgeschichte – Jahrgang 2021 Heft 3
Heft 3 von 2021
Vorwort der Herausgeber Kunst provoziert Priester, Schamane, Scharlatan, kaum eine Bezeichnung wurde ausgelassen, um den am 12. Mai 1921 in Krefeld geborenen und am 23. Januar 1986 in Düsseldorf gestorbenen Jahrhundertkünstler Joseph Beuys zu charakterisieren: Sein ästhetischer Imperativ, ‚Jeder Mensch ist ein Künstler!‘, klingt bis heute vielfältig in den Kunstakademien, in der Kunst und Kunstgeschichte nach. Und doch überrascht, wie wenig Joseph Beuys bis heute die Gemüter kalt lässt. Seine Provokationen und Aktionen verliefen vielfach quer zu allen etablierten politischen Frontverläufen, wie seine Skepsis gegenüber der westdeutschen Demokratie und seine gleichzeitige Kritik am unterdrückerischen Kommunismus der DDR sowie am Marxismus als aus seiner Sicht überkommenen Ideologien, so in seiner Aktion Ausfegen, in der er am 1. Mai 1972 den Karl-Marx-Platz in Berlin symbolisch-performativ ‚freimachte‘. Dass man sich auch mit Joseph Beuys und seinen künstlerischen Gedanken und Konzepten selbst ideologiekritisch ‚ausfegend‘ auseinandersetzt, ist weniger überraschend als die inzwischen polarisierte Spaltung der [...]