Vorwort der Herausgeber Postkolonialer Antisemitismus Der für dieses Vorwort vorgesehene Umfang reicht nicht aus, um allein schon die Chronologie (der weiter andauernden) Geschehnisse, Versäumnisse und missglückten kommunikativen Prozesse, die uns in den letzten Wochen rund um die Documenta 15 in Kassel in Atem gehalten haben, darzustellen. Vielfach wurden diese Vorgänge in der Presse tagesaktuell ausführlich dokumentiert und kommentiert und geben ausreichend Stoff für zukünftige rezeptionsgeschichtliche Studien zur Geschichte der weitflächigen Beschädigung einer großen Gegenwartskunstausstellung. Eine der vielen Fragen, die sich mit Blick auf diese Vorgänge rund um die Documenta für die Kunstgeschichte stellt, lautet: Was heißt es, zu kuratieren? Das Wort ‚Kuratieren‘ besitzt heute für viele eine nahezu magische Anziehungskraft und wird nicht selten für allfällige Berufs- und Studiengangziele der unterschiedlichsten Ausrichtungen als attraktive rhetorische Währung ausgegeben. Selten genug wird thematisiert, dass damit auch weitreichende Verantwortlichkeiten und spezifische Anforderungen an das Kuratieren gestellt werden. Das fängt nicht erst mit dem Ausschluss strafrechtlich relevanter antisemitischer Bildmotive an und hört auch nicht damit auf: Wie eine programmatische Überschrift zur Documenta hatte das Künstlerkollektiv Taring Padi vor dem Fridericianum ihr vom Kurator*innenkollektiv Ruangrupa und der zwischenzeitlich zurückgetretenen Generaldirektorin Sabine Schormann akzeptiertes Bildbanner People’s Justice präsentiert und erst widerstrebend auf den wachsenden öffentlichen Druck hin entfernt. Statt diskursiver Öffentlichkeitsarbeit und selbstreflexiver Aufarbeitung haben sich die Verantwortlichen der Diskussion bis heute schmollend entzogen und sich hinter Schutzbehauptungen mangelnder oder ‚komplexer Zuständigkeiten‘‚ der Freiheit der Kunst‘, der drohenden ‚Bevormundung des Global South durch den Norden‘ versteckt oder sahen sich gar selbst als Opfer „unter Generalverdacht gestellt und aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder auch ihrer sexuellen Orientierung diffamiert und zum Teil auch bedroht.“ Um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, kam die via Pressemitteilung vom 23. Juni 2022 nachgelieferte Entschuldigung „für die Enttäuschung, die Schande, Frustration, Verrat und Schock, die wir bei den Betrachtern verursacht haben“ von Ruangrupa zu spät und sie klang inhaltlich wenig überzeugend: „Die Bildsprache knüpft, wie wir jetzt in Gänze verstehen, nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verfolgt und ermordet wurden.“ Wie bestürzend, dass man 2022 Kurator*innen in Erinnerung bringen muss, dass Antisemitismus nicht von der Kunstfreiheit und auch nicht vom postkolonialen Reframing der Kunstdiskurse gedeckt wird. ‚Kuratieren‘ heißt nicht nur, Kunst sorgfältig und präzise zu präsentieren, sondern in umfassendem Sinne – gerade auch unter den Vorzeichen komplexer postkolonialer Diskurse – zu kommunizieren. Dass eine Künstlerin wie Hito Steyerl ihre herausragende Video-Installation Animal Spirits mitten aus dem laufenden Ausstellungsbetrieb der Documenta zurückzog, mit der Begründung, dass sie kein Vertrauen mehr „in die Fähigkeit der Organisation, Komplexität zu vermitteln und zu erklären“ habe, unterstreicht, wie unverzichtbar kuratorische Sorgfalt sowie überzeugendes Kommunizieren auch für Künstler*innen bleibt. Die Vorstellung, dass sich postkoloniale Diskurse in einem archimedischen Punkt außerhalb der Geschichte entfalten und außerhalb der Matrix politischer Kräfteparallelogramme führen lassen, erweist sich in Kassel in bedrückender Weise als falsch, und dies ausgerechnet mit Blick auf den sensibelsten Punkt der deutschen Geschichte. Die postkolonialen Diskurse auf der Documenta werden von der unbequemen Erkenntnis eingeholt, dass es auch postkolonialen Antisemitismus gibt. Die Versuche der nachträglichen Schadensbegrenzung waren dieser Erkenntnis bislang nicht gewachsen. Dass sich Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank, von der Beratung des Kurator*innenkollektivs zurückzog und gleichzeitig mit Emily Dische-Becker die Unterstützung einer einseitig der palästinensischen Bewegung im Libanon nahestehenden Ansprechpartnerin gesucht wurde, kommen als weitere Menetekel im Krisenmanagement des Documenta-Skandals hinzu. Über Wochen erlebte man eine Generaldirektorin und ein Kurator*innenkollektiv, die sich gegenüber den mit Blick auf eindeutig antijüdische, antiisraelische und antisemitische Ikonografien in Exponaten auf der Documenta anschwellenden Vorwürfen in vielsagendes Schweigen zurückzogen und durch Aussitzen eine zunehmend katastrophale Außenwirkung der Ausstellung zu überstehen versuchten, wo Kommunikation gefordert wäre. Mit dem Rücktrittd er Generaldirektorin ist kein Schlusspunkt, sondern ein Ausrufzeichen hinterder Forderung nach der Aufarbeitung dieser Vorgänge gesetzt. ‚Kuratieren‘ heißt, in umfassendem Sinne Sorgfalt walten lassen, zu kommunizieren, um Glaubwürdigkeitherzustellen. Das sind zugegebenermaßen altmodisch klingende Worte und moralische Kategorien. Der Documenta-Skandal zeigt aber, wie unverzichtbar dieseAspekte in jeder kuratorischen Tätigkeit bleiben. ‚Kuratieren‘ heißt: Verantwortung übernehmen. Und diese Verantwortung existiert weder im luftleeren Raum noch losgelöst von handelnden Individuen. Sie muss im gesellschaftlichen Kontext von jedem und für jeden diskursiv einklagbar bleiben. Das gilt im Übrigen auch für die Beiträge des Journals für Kunstgeschichte, die Heft für Heft von wechselnden ‚Autor*innenkollektiven‘geliefert, naturgemäß vielfach nicht mit den persönlichen Meinungen und Ansichten des ‚Herausgeberkollektivs‘ identisch sind. Und doch übernehmen wir Heft für Heft Verantwortung dafür, die Spielregeln guter Wissenschaft und eines freiheitlichen diskursiven Austauschs lebendig zu halten. Wir danken allen Autor*innen mit herzlicher Verbindlichkeit für ihre Beiträge und unseren Mitarbeiterinnen Celina Berchtold und Hannah Semsarha für die redaktionelle Unterstützung.
Journal für Kunstgeschichte – Jahrgang 2022 Heft 3
Heft 3 von 2022
Vorwort der Herausgeber Postkolonialer Antisemitismus Der für dieses Vorwort vorgesehene Umfang reicht nicht aus, um allein schon die Chronologie (der weiter andauernden) Geschehnisse, Versäumnisse und missglückten kommunikativen Prozesse, die uns in den letzten Wochen rund um die Documenta 15 in Kassel in Atem gehalten haben, darzustellen. Vielfach wurden diese Vorgänge in der Presse tagesaktuell ausführlich dokumentiert und kommentiert und geben ausreichend Stoff für zukünftige rezeptionsgeschichtliche Studien zur Geschichte der weitflächigen Beschädigung einer großen Gegenwartskunstausstellung. Eine der vielen Fragen, die sich mit Blick auf diese Vorgänge rund um die Documenta für die Kunstgeschichte stellt, lautet: Was heißt es, zu kuratieren? Das Wort ‚Kuratieren‘ besitzt heute für viele eine nahezu magische Anziehungskraft und wird nicht selten für allfällige Berufs- und Studiengangziele der unterschiedlichsten Ausrichtungen als attraktive rhetorische Währung ausgegeben. Selten genug wird thematisiert, dass damit auch weitreichende Verantwortlichkeiten und spezifische Anforderungen an das Kuratieren gestellt werden. Das fängt nicht erst mit dem [...]